Donnerstag, 6. März 2008

Was ist Hochbegabung? Hochbegabung ist das, was Wissenschaftler definieren....

(Hochbegabung im Titelthema von Gehirn & Geist Heft 3/3008)
Verhaltensauffälligkeiten und Hochbegabung

Dass Hochbegabung zu Verhaltensauffälligkeiten und Schulversagen führen kann, ist ein gerne bedientes Klischee und zahlreiche Eltern vermuten just auch eine versteckte Hochbegabung hinter all den leidigen Schwierigkeiten.

Allerdings scheint einzig gesichert zu sein, dass hoch begabte Schülerinnen und Schüler genauso häufig von Verhaltensauffälligkeiten betroffen oder bedroht sind wie andere Kinder auch. Das heißt, dass Hochbegabung nicht überzufällig häufig zusammen mit bestimmten Formen von Verhaltensauffälligkeiten auftritt (vgl. ROST, 2000[1]; HELLER, 2001[2]; HANY, 2002[3]).
Jedoch fällt es Eltern und Lehrkräften immer noch schwer, wenn dann tatsächlich bei ihrem Kind /Schüler(in) Hochbegabung und Schulversagen resp. Verhaltensauffälligkeit zusammen auftritt. So dürfte das eine oder andere Kind tatsächlich sich als Versager fühlen oder gar eine gescheiterte Schulkarriere hinter sich haben. Daher ist Aufklärung so enorm wichtig.

Besondere Leistungen bedeuten nicht immer das Vorhandensein einer Hochbegabung
Obwohl vermutet wird, dass nur zwischen 2 und 5 Kinder eines Jahrgangs tatsächlich hochbegabt sind, wird hinter allen möglichen besonderen Leistungen oft auch vorschnell eine Hochbegabung angenommen.

Problem: Was Hochbegabung ist, wird von Wissenschaftlern unterschiedlich definiert
Leider gibt es nach wie vor unterschiedliche Definitionen zur Hochbegabung:

1. Mehrheitlich werden weit gefasste Vorstellungen vertreten:
Weit gefasste Vorstellungen von Hochbegabung beziehen auch spezifische Begabungsschwerpunkte in das Konstrukt mit ein. Doch gibt es auch unter den weit gefassten Vorstellungen noch Variationen:
Beispiel einer "weiten" Fassung der "Hochbegabung": http://www.logios.de/hochbegabung.htm
und ein Hinweis, wie viele "Hochbegabungs-Definitionen" untereinander konkurrieren:
Landesverband Hochbegabung Baden-Württemberg e.V.: Was ist Hochbegabung? Im Wikipedia-Artikel zur Hochbegabung werden die verschiedenen Sichtweisen erläutert: Wikipedia "Hochbegabung" (Fassung 02.03.2008) und im zugehörigen Artikel zur Intelligenzmessung auf die Grenzen der Diagnostik hingewiesen: Ausführlich im Skript der Sendung „Planet Wissen“: INTELLIGENZMESSUNG

Zur Situation in der Hochbegabungsforschung: "Gehirn, Geist und Genie -Perspektiven der Hochbegabtenforschung" - Sendung vom 15.02.2006 (BR Alpha) - Gespräch mit Vertretern der Hochbegabungsforschung

Kritischer Text zur Hochbegabung: PDF-Datei: „Begabungsförderung macht Schule“.

Das Checklisten-Problem:
Letztendlich können nur Personen mit ausreichend diagnostischen Kenntnissen, Hochbegabung feststellen. Denn alle Kinder zeigen im Laufe ihrer Entwicklung besondere Fähigkeiten, ohne dass sie deshalb hochbegabt wären.

Zitat zum Stichwort "Hochbegabung" aus dem Lexikon der Psychologie auf CD-ROM
(Heidelberg, Spektrum-Akademischer Verlag GmbH, 2002)

Im Gegensatz zu eindimensionalen (IQ-basierten) Hochbegabungskonzepten in der Vergangenheit, hat sich die Hochbegabungsforschung spätestens seit den 80er Jahren "vom IQ verabschiedet" (Gardner). Demgegenüber wird in der diagnostischen Praxis nicht selten noch an theoretisch überholten IQ-Definitionen von Hochbegabung festgehalten. Dies ist um so erstaunlicher, als in den letzten 20 Jahren fast ausschließlich mehrdimensionale oder typologische bzw. klassifikatorische Hochbegabungsmodelle publiziert worden sind. Diese beschreiben und erklären Hochbegabung im eingangs definierten Sinne weitaus angemessener als eindimensionale Modelle, vor allem wenn man die Bereichsspezifität der meisten Hochbegabungen anerkennt. Folgerichtig werden heute unterschiedliche (sprachliche, mathematische, musikalische, soziale, motorische usw.) Begabungsformen in den aktuellen Hochbegabungsmodellen konzipiert (Heller, Mönks & Passow, 1993). Diese Feststellung bezieht sich sowohl auf explizite (wissenschaftliche) als auch auf implizite (subjektive) Hochbegabungskonzepte.

PDF-Vortrag zum Thema Hochbegabung - Veranschaulichung des "Hochbegabungskonzeptes"

2. Der psychometisch definierte Hochbegabungsbegriff - Hochbegabung wird durch die Intelligenztestung definiert (IQ > 130)

Das im Heft "Gehirn & Geist 3/2008 von Detlef Rost vertretene Hochbegabungs-Konzept zielt auf die mittels Intelligenztests messbare Intelligenz ab. Damit vertritt er jedoch ein einseitiges Konstrukt, welches vom aktuellen multidimensional angelegten Hochbegabungsbegriff abweicht.

Dadurch bleiben die - selbst im Wikipedia-Artikel - diskutierten sozioökonomischen Faktoren außen vor, obwohl diese unter Umständen einen nicht unerheblichen Einfluss auf Intelligenzmessungen haben können. Da Intelligenztests, insbesondere mit Schulleistungen hoch korrelieren, wird angenommen, dass hochintelligente - d.h. insbesondere Kinder aus unteren sozialen Schichten - durch das Raster fallen und unentdeckt bleiben.

Denn Intelligenztests korrelieren hauptsächlich nur mit Schulleistungen und werden aus diesem Grunde für objektiv, reliabel und valide angesehen.
Jedoch: Gerade jener Korrelationsfaktor - betrachtet man die Zusammenhänge von PISA-Ergebnissen und Schülern mit Migrationshintergründen - lassen reine Intelligenzmessungen zur Feststellung von Hochbegabungen für ungeeignet erscheinen.

siehe:
Probekapitel aus dem Handbuch der Pädagogischen Psychologie - Hogrefe Verlag - 2008
Intelligenz und Kreativität: Was ist Intelligenz?

Vorteile des "psychometrischen Ansatzes": Eindeutigkeit und leichte Messbarkeit
Der von Detlev Rost vertretene so genannte „psychometrische“ Ansatz hat für die Forscher einige Vorteile:
Damit kann Detlev Rost im Geist & Gehirn-Beitrag einen klaren Hochbegabungsbegriff mit eindeutigen Beziehungen zu Intelligenztestungen vertreten. Ebenso werden dadurch einseitige "Begabungsbereiche" ausgeschlossen.

Nachteile: Ausschluss sozialer und anderer Aspekte
Der Hochbegabungsbegriff von Detlef Rost ist damit klar und eindeutig umrissen und mit dem Nachteil verbunden, dass er nur einen Ausschnitt der „sozialen Realität“ erforscht und umschreibt.

Die Begriffsproblematik des Konstruktes "Hochbegabung" resultiert aus den unterschiedlichen Sichtweisen der einzelnen Wissenschaftsdiszipline und deren Teilgebiete. Detlef Rost vertritt einen, - für Psychologen, welche sich insbesondere dem Bereich der Testdiagnostik gewidmet haben -, verständlichen und typischen Standpunkt: es gilt, was klar gemessen werden kann. So genannte "weiche Faktoren", welche - ähnlich einem Arzt-Patient-Gespräch - nur über "anamnestische" Befragungen ermittelt werden können sind oft stark vom "Versuchsleiter" abhängig und werden daher von psychometrischen "Hardlinern" eher ausgeschlossen. Andere - aus sozialpsychologischen Studien resultierende Ergebnisse bleiben - aufgrund einer gewissen "Fachblindheit" ebenfalls außen vor.

Wenn man das Konzept des Elefanten als Untersuchungsgegenstand hernimmt, dann sitzt der Psychometriker am Kopf des Elefanten und studiert seine "Denkreaktionen" ;-)). Dabei geraten andere (Umgebungs-)Faktoren diesem Forscher erst gar nicht in sein Blickfeld.

Ähnlich, wie in der Medizin im Falle des Konstrukts "Krankheit", verfährt Detlef Rost in der Psychologie mit dem Konstrukt "Hochbegabung":
Eine bestimmte Krankheit hat demnach nur jemand, wenn z.B.bestimmte Blutwerte, Lungenfunktions- oder andere messbare Werte in Erscheinung treten. (Evidenzbasierte Medizin)

So werden z.B. Schweregrade eines Asthmaanfalles in Blutdruckwerten, Atemfrequenzen und per Sauerstoffgehalt des Blutes gemessen. Haben Patienten sog. Asthmatrainings erfolgreich durchlaufen und können lange Zeit während eines Anfalles Ruhe bewahren, so können sie sehr lange die Atemfrequenzen, Blutdruckwerte und den Sauerstoffgehalt ihres Blutes noch unter Kontrolle halten. Ergebnis: ein schwerer Anfall wird fälschlicherweise als "leicht" eingestuft......

Dieses Problem hat auch ein überzeugter "Psychometriker". Er verlässt sich auf Messkonstrukte und übersieht zahlreiche Einflussfaktoren, welche damit nicht gemessen werden können, oder welche durch bestimmte äußere Einflüsse besonders negative oder positive Ergebnisse hervorrufen .

Inhaltsverzeichnis + Reinblättern
http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/912546

Kurzinfo: Hochbegabung
http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/941099

Kurioses zum Thema am Rande:
Wer nach dem Stichwort "Hochbegabung" googelt, bekommt auf einen Schlag 278.000 Ergebnisse. Diese Zahl entspricht annähernd der von manchen geschätzten Anzahl an Hochbegabten in Deutschland, d.h. für jeden Hochbegabten gäbe es unter Google 1 Treffer ;-)) - Der Begriff "Hochbegabungsforschung" ergibt hingegen nur 735 Treffer.....wobei im Detail viele Treffer tatsächlich nichts mit der Hochbegabungsforschung zu tun haben....

FAZIT:
Einigkeit besteht über verschiedene Einflussfaktoren auf das Intelligenz- und Hochbegabungskonstrukt. Ein gemeinsamer interdisziplinärer Ansatz mit entsprechend erweiterten diagnostischen Definitionen und Messmöglichkeiten ist längst überfällig.
Letztendlich können nur Personen mit ausreichend diagnostischen Kenntnissen, Hochbegabung feststellen. Denn alle Kinder zeigen im Laufe ihrer Entwicklung besondere Fähigkeiten, ohne dass sie deshalb hochbegabt wären.

Das Thema "Hochbegabung" aus neurowissenschaftlicher Sicht wird im Blog Neurowissenschaften behandelt:Hirnforschung und das Konzept der Hochbegabung - Drei Hirnforscher und zwei "Ansichten"


[1] ROST, D.H. (Hrsg.): Hochbegabte und hochleistende Jugendliche: neue Ergebnisse aus dem Marburger Hochbegabtenprojekt. Münster 2000
[2] HELLER, K.A. (Hrsg.): Hochbegabung im Kindes- und Jugendalter. Göttingen 2001
[3] HANY, E.A.: Mathematisch-naturwissenschaftliche Spezialklassen: Wie findet man geeignete Schüler? In: Wagner, H. (Hrsg.): Begabtenförderung und Lehrerbildung. Bad Honnef 2002, 261-271

Nachtrag: Weiterführende Links:

FAZ: Interview mit Psychologe Detlev Rost: Vom Recht der Hochbegabten, nicht ständig gefördert zu werden


2 Kommentare:

Ralf hat gesagt…

Auszüge aus einem Artikel in der FAZ, der für viele Diskussionen äußerst hilfreiche Argumente liefern kann:

Vom Recht der Hochbegabten, nicht ständig gefördert zu werden

26. Juni 2008

http://joveniden.blogspot.com/2008/06/hochbegabung.html

Monika Armand hat gesagt…

Lieber Ralf,
vielen Dank für Deinen Hinweis. Das Link werde ich als Nachtrag im Text unterbringen. Hier kann man den Feststellungen von Detlev Rost voll zustimmen.

Beste Grüße Monika