Montag, 5. Mai 2008

"Überraschung" interdisziplinär betrachtet.......

Bildquelle Pixelio: (c) Erich Kasten
Warum gibt es Dinge, welche wir uns nach einem einmaligen Ereignis auf Dauer merken können ? Aber das, was wir uns merken sollten, vergessen wir zu unserem Leidwesen allzu schnell wieder ?

Stellen Sie sich vor, Sie sind unterwegs mit einem Freund. Sie besprechen gerade einen Vortrag, welcher von ihrem Freund vor einem größeren Publikum gehalten werden soll. Sie kommen an dieser Unfallstelle vorbei und müssen warten. Eine unerwartete, überraschende Situation. Die Feuerwehr muss den eingeklemmten Fahrer befreien. Ihre und die Aufmerksamkeit Ihres Freundes gilt in diesen Momenten alleine dieser Situation.

Die Polizei leitet den Verkehr um und die Unfallsituation gerät aus
Ihrem Blickfeld. Nach einer Weile kommt das Gespräch wieder auf den Vortrag Ihres Freundes mit dem Thema "Verkehrsunfälle nach Discobesuchen in Verbindung mit Alkohol"...........

Vier Wochen später:
"Weißt Du noch...als wir auf der Fahrt zu Deinem Vortrag waren...der Unfall.....dass Dein Freund John der Unfallfahrer war, tot, weil er nach einer durchfeierten Nacht die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hat...das hat die Zuhörer Deines Vortrages doch sehr betroffen gemacht. Irgendwie makaber .....aber Deine Zuhörer haben den Saal dieses Mal viel nachdenklicher verlassen, als sonst...."

Sie werden vermutlich diesen Blogbeitrag, wie die Zuhörer den Vortrag, besser behalten als andere "alltäglichere" Blogbeiträge.....

Warum? Was passiert in unserem Kopf, dass Überraschungen und besondere Ereignisse so nachhaltig "wirken"?

Ich habe den Rat von Daniela Fenker und Hartmut Schütze befolgt und meinen Bericht über das
Titelthema im neuen Gehirn&Geist Heft Nr. 5/2008: "Mit Überraschungen lernt sich's besser" mit einer "Überraschung" begonnen:
Die Autoren forschen über den Einfluß emotionaler Reize auf die präfrontale Gedächtniskontrolle an der Otto-von -Guericke-Universität Magdeburg
und erklären anhand Ihrer Ergebnisse aus der Hirnforschung, dass Neuheit die Langzeitpotenzierung im Hippocampus fördert, auch wenn nach deren Präsentation einige Zeit verstrichen ist! Das bedeutet also, dass Überraschendes und Neuigkeiten, dass Gedächtnis befähigen nachfolgende Dinge ebenfalls besser merken zu können. Die Autoren schlagen daher vor, dass Pädagogen zuerst das Neue und Unbekannte präsentieren und erst dann den alten Stoff wieder durchgehen.

Links zum Thema "Überraschung"

Soweit die neurowissenschaftliche Sicht. Für Erziehungswissenschaftler ergeben sich für die "Verwertung" neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse grundsätzliche Probleme. Denn erzieherisches und unterrichtliches Handeln findet in komplexen Zusammenhängen und Beziehungen statt. Unterrichtliches Handeln z.B. geschieht in vorstrukturierten Kontexten. Rita Kohnstamm bezeichnet daher schulisches Lernen als "kalte" Kognition. (Näheres dazu siehe auf der Webseite Neuropädagogik:" Guter (Schul-)Unterricht" und "Anforderungen an das Kind bei Schuleintritt")

Seien wir uns darüber im Klaren, dass im Augenblick die neurowissenschaftliche Erforschung von Emotionen und seine Bedeutung für das Lernen noch ganz am Anfang steht.

Die möglichen Versuchsanordnungen, welche mit Hilfe bildgebender Verfahren (bei erstaunlichen 3 Tesla) umgesetzt werden, beschränken sich nur auf Teilaspekte menschlichen Erlebens und Handelns . Oft bekommen Forscher "nur" ein neurobiologisches Korrelat für bereits vorhandene, empirisch bestätigte psychologische Theorien. Neurobiologische Ergebnisse liefern wichtige und ergänzende Details. Die Forschungsarbeit ist mühsam und aufwendig.
Große "Würfe" im Hinblick pädagogischer Verwertungsinteressen sind nicht zu erwarten. Die Aufgabe der Biologen beschränkt sich - aus Sicht eines Pädagogen und Psychologen - im Moment hauptsächlich auf die Suche nach naturwissenschaftlichen Korrelaten psychologischer Theorien. Diese sind komplex und im Labor der Neurowissenschaftler nur mit sehr viel Ideenreichtum und intelligenten Versuchsanordnungen in Teilen abbildbar. Die Forschung sammelt quasi Mosaikstein für Mosaikstein in der Hoffnung, dass zunehmend das Zusammenspiel verschiedener Hirnstrukturen geklärt werden kann.

Der "Ertrag" für das alltägliche pädagogische Handeln könnte deutlich gesteigert werden , wenn Neurowissenschaftler in ihren weiter gehenden Forschungen Psychologen und Pädagogen mit einbeziehen würden. Denn z.B. selbst der gutgemeinte Rat, das Lernen mit einer Überraschung zu beginnen, kann in besonderen Konstellationen völlig daneben gehen:

Welche "Varianten" an Neuem und Überraschendem sind möglich?

Die Begriffe Neues und Überraschung sind eigentlich "wertfrei". Neu ist, was unbekannt ist. Da unser Gehirn jede Reizaufnahme über einen "emotionalen Filter" vornimmt, wird alles "Neue" einer unvermittelten Bewertung unterworfen, so dass eine Überraschung selten "bewertungsfrei" unser Aufmerksamkeitssystem passiert.

Abb.: M. Armand-vereinfachtes Modell von Lern-undBehaltensprozessen nach Prof.Dr. Markowitsch

Unser Gehirn steuert den Wahrnehmungsprozess über einen „emotionalen Filter". Jede eingehende Information erfährt dabei eine Überprüfung ihres emotionalen Gehaltes. Sämtliche wahrnehmbaren Reize unterliegen einer solchen Überprüfung. Hier liegen z.B. auch die Ursachen dafür, wenn bestimmte subjektiv hoch bedeutungsvolle Informationen nahezu ohne Umwege direkt im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden: die emotionale Bewertung „hochwichtig“ führt zu einer stärkeren und längerandauernden Erregung der Nervenpotentiale, sog. Langzeitpoteniale (LTP). Es wird angenommen, dass LTP’s oder mehrfache neuronale Erregungen zu der Bildung von „Gedächtnismolekülen“ führen, welche für das Langzeitgedächtnis verantwortlich sind. Weniger bedeutsame Informationen, d.h. mit z.B. neutraler emotionaler Bewertung, werden hingegen erst durch mehrfaches’wiederholen,’behalten...
Ausführlich: Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeit II und Aufmerksamkeit III

Eine "Überraschung" kann so groß sein, dass sie zur Reizüberflutung (ad 1.) führt, oder sie kann Angst, Furcht (ad 2.), oder intensive Ablenkung (ad 3.) aber auch überschwängliche Freude (ad 4) verursachen. Oder es kann schlicht eine interessante "Neuigkeit" sein, etwas, was unsere Neugierde (ad 5.) weckt, weil wir es noch nicht kennen.

Zunächst stellt sich jedoch die Frage, was eine "Überraschung" auslöst?
Aus der Säuglingsforschung wissen wir, dass "Neues" eine sogenannte "Orientierungsreaktion" verursacht. Nach einer gewissen Zeit tritt ein Gewöhnungseffekt ein, welcher Habituation genannt wird. Man weiß, dass sich der Mensch auf diese Art und Weise physisch und psychisch seine Umwelt aneignet. Die Orientierungreaktion ist nach Sokolov (1963)* ein integrativer Teil des komplexeren explorativen Verhaltens (Bsp: Jemand betritt ein Lokal und alle vorhandenen Gäste schauen kurz auf.)
*SOKOLOV, E.N. (1963). Perception and the conditioned reflex. New York: Mc Millan.

Dann stellt sich die Frage, welche "Varianten" an Neuem und Überraschendem möglich sind:

ad 1.) Das Unbekannte kann so überwältigend sein, dass eine Reizüberflutung zustande kommt. Glücklicherweise gibt es Nervenzellen, welche eine solche Überflutung verhindern:

Zitat aus dem Pressebericht zur Studie:
In den Nervenzellen der Hirnrinde werden sowohl Impulse aus den Sinnesorganen als auch Erinnerungen verarbeitet. Berner Forscher haben herausgefunden, dass Nervenzellen auch als «Unterdücker» von bestimmten Impulsen fungieren. Ohne diese hemmende Funktion wäre unser Gehirn von den dauernden Informationsströmen überfordert. Die Forschungsergebnisse wurden als Titelgeschichte in der renommierten Fachzeitschrift «Neuron» publiziert.
weiter mit dem Kurzbericht (dt.) der Studie: hier
PDF (engl.)der Studie: The GABAB1b Isoform Mediates Long-Lasting Inhibition of Dendritic Ca2+ Spikes in Layer 5 Somatosensory Pyramidal Neurons . Neuron , Volume 50 , Issue 4 , Pages 603 - 616E . Pérez-Garci , M . Gassmann , B . Bettler , M . Larkum PDF (955 K)


ad 2.) Oder: Überraschungen können angst- oder furchtauslösend sein und entsprechende "Flucht"- und "Abwehrreaktionen" auslösen. (->Amygdala -> Stressstudien)
siehe "Physiologische Stressmodelle" aus dem Beispielkapitel der Medi-Learn Skriptenreihe "Psychologie 1- Methodische Grundlagen und biopsychologische Modelle" von Franziska Dietz: hier als PDF-Datei

wissenschaft.de vom 04.04.2007 - Hirnforschung Wie das Gehirn die Notbremse zieht

Das Gehirn besitzt eine eingebaute Notbremse, um Tätigkeiten oder Bewegungen plötzlich abbrechen zu können: Sie besteht aus drei weit voneinander entfernt liegenden Hirnregionen, die über Hochgeschwindigkeitsdatenkabel aus Nervenfasern miteinander verbunden sind, haben amerikanische Wissenschaftler entdeckt. Das ermöglicht einen schnellen Informationsaustausch und damit eine rasche Kontrolle des Verhaltens, wie sie etwa bei einer unerwarteten Gefahrensituation im Straßenverkehr nötig ist.

weiter hier: Wie das Gehirn die Notbremse zieht

ad. 3.) Oder: Überraschungen können die gesamte Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Neue lenken:
und damit auch vom eigentlichen Thema ablenken. Denn das Neue bindet unser Aufmerksamkeitssystem:


Karikatur (c) Marie Marcks
„Aufmerksamkeit ist eine gerichtete Informationsaufnahme- und Aktionsbereitschaft. Diese führt zur Unterdrückung irrelevanter Informationen und Handlungen bzw. dient zur Unterscheidung zwischen relevanten und irrelevanten Informationen. Entsprechend ermöglicht gezielte Aufmerksamkeitssteuerung bessere Lern- und Arbeitsprozesse sowie Gedächtnisleistungen.“ Vgl. Maier, K., Ambühl-Caesar, G., Schandry, R. (1994), Seite 142,Entwicklungspsychophysiologie, Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim
Da "Überraschung" Relevanz erzeugt, führt eine thematisch abweichende Neuigkeit weg vom eigentlichen Aufmerksamkeitsziel.
Ausführlich: Aufmerksamkeitssysteme, Informationsverarbeitung und Verhaltenssteuerung aus neuropsychologischer Sicht


ad 4.) Oder: Überraschungen können überschwängliche Freude (->auch: Flow-Erleben) auslösen
Deci (2001) point out that people high in happiness or subjective well-being tend to have attributional styles that are more self-enhancing and more enabling than those low in subjective well-being, suggesting that happiness can lead to positive cognitions which in turn contribute to further happiness...[....]......Compared with individuals in negative or neutral mood states, subjects in a positive mood state have a broader focus of attention (“see the bigger picture”) (Gasper & Clore, 2000) and generate many more ideas in problem-solving tasks (Fredrickson & Branigan, 2005) - Zitat Seite 6*
Ausführlicher (in engl.) hier:

*Positive emotions and cognition: developmental,neuroscience and health perspectives
Felicia A Huppert
,Department of Psychiatry, University of Cambridge
Erschienen in: Hearts and minds: Affective influences on social cognition and behavior.
Psychology Press, New York. Proceedings of the 8th Sydney Symposium 2005. (Convened by Joseph P. Forgas).

Besonders interessant ist die Schlussfolgerung, dass positive Emotionen zu einer höheren Aufmerksamkeit führen. Siehe auch das PDF zum Flow-Erleben gem. Mihalyi Csikszentmihalyi (dt.)

ad 5.) Die Überraschung kann schlicht eine interessante "Neuigkeit" sein, etwas, was unsere Neugierde weckt, weil wir es noch nicht kennen.....

Eine Neuigkeit bindet Aufmerksamkeitsressourcen am Besten, wenn sie einen "mittleren" Erregungsgrad besitzt. Wird dieses Maß überschritten lässt die verbesserte Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit wieder nach: Yerkes-Dodson-Gesetz (1908)*: Grafik siehe rechte Seite (www.nwlink.com/~donclark/hrd/history/ydlaw.gif)
Ausführlich bei Don Clark hier: Yerkes-Dodson Law: Arousal and Learning(engl.)

Pädagogische Implikationen:
Auch wenn oben einige Varianten an möglichen "Überraschungen" aufgezählt wurden, so bilden auch diese nur einen kleinen Ausschnitt ab. Insbesondere damit verbundene Fragen aus der Motivations- und Emotionspsychologie sind unbesprochen geblieben.

Eltern, Erzieher und Pädagogen nützt dieses Wissen als "Hintergrundwissen" und "Reflexionsbasis" für konkrete Situationen.

Bereits beim Versuch einer Implementierung von "Überraschungen" in den pädagogischen Alltag, kommen zahlreiche Faktoren zum Tragen, welche die "Überraschung" beeinflussen. So spielen z.B. darüber hinausgehende Emotionen im Lernprozess ebenfalls eine große Rolle. Nur ein kleiner Teil davon wurde oben kurz angeschnitten. "Leider scheint es ebensoviele Emotionsdefinitionen wie Emotionstheorien zu geben" (Zitat S. 298, Klaus R. Scherer in Stroebe & Koll. "Sozialpsychologie, Springer 1996).

Ein Beispiel aus der Praxis:
Beim Betreten des Klassenzimmers wird deutlich: ein paar Schüler streiten heftig und die Emotionen kochen darüber hoch. Es versteht sich von selbst, dass diese Klasse gar nicht in der Lage ist eine unterrichtsbezogene Neuigkeit "aufzunehmen". Auch führt das Erleben jener Auseinandersetzung nicht zu einer verbesserten "Lernfähigkeit" des nachfolgenden Lehrstoffes, denn
gemäß -> Garcia&Koelling und Kamin*, müssen Reize miteinander in Verbindung stehen, damit etwas gelernt wird.
Daher muss die Lehrkraft zunächst die Streitigkeit schlichten und die Schüler beruhigen. Nur so wird die Schulklasse in der Lage sein, die von der Lehrkraft vorbereitete, unterrichtsbezogene "Überraschung" auch als "Überraschung" wahrzunehmen.
oder:
Das eingangs von mir im Beitrag verwendete Beispiel lenkt die Seminarteilnehmer deshalb nicht ab, weil das Beispiel als "Überraschung" den Vortragsinhalt besonders hautnah verdeutlicht .......

Ein weiteres Beispiel aus der Werbung:
Werbebotschaften, welche mit Überraschungen so überladen werden, dass der Zuschauer später nur noch die Überraschungen, aber nicht mehr das beworbene Produkt erinnert, zeigen, dass der Kontext einer Überraschung unbedingt beachtet werden sollte. (-> Reizüberflutung -> Inhibition)

Und noch ein Beispiel aus der Zauberkunst:
Zauberer können Zuschauer täuschen, weil diese Kenntnis über die bestehenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten haben. Kinder sind nicht so leicht zu täuschen, weil für sie der Bruch physikalischer Gesetzmäßigkeiten nichts Besonderes ist. Sie können sich Erklärungsmöglichkeiten vorstellen, welche für Erwachsene undenkbar sind. So gelingt die "Überraschung" durch Zauberkunst bei Erwachsenen sehr viel besser, als bei kleineren Kindern....


Vertiefende Informationen:

"Die evolutionäre Bedeutung von Emotionen"
In:Klaus R. Scherer in Stroebe & Koll. "Sozialpsychologie, Springer 1996 S. 301
Emotionen und Behaviorismus (PDF - dt.)

In englischer Sprache:

Bunzeck, N., Duzel, E.
:
Absolute Coding of Stimulus Novelty in the Human Substantia Nigra/VTA
In: Neuron 51(3), 2006, S. 369-379.

Lisman, J. E., Grace, A. A.
:
The Hippocampal-VTA Loop: Controlling the Entry of Information into Long-Term Memory
In: Neuron 46(5), 2005, S. 703-713.

Garcia, J. and Koelling, R.A. (1966)
Relation of cue to consequence in avoidance learning. Psychonomic Science, 4, 123
In Psychonomic Science, 4, 123-124

Yerkes, R.M. & Dodson, J.D. (1908).
The Relationship of Strength of Stimulus to Rapidity of Habit Formation.
Journal of Comparative Neurology and Psychology.
, 18, 459-482.

Garcia & Koelling (1966) Conditioned Taste Aversion (CTA). *. Typical CTA Procedure. Avoidance ...Garcia & Koelling (1966). “Bright Noisy Water Experiment” ... (ppt-Datei, engl.)


Neurobiology of Learning and Memory Dateiformat: Microsoft Powerpoint - HTML-Version

Early Attention: A Study of the Underlying Mechanisms

For english speaking readers I can recommend the sites of Don Clark:
Yerkes-Dodson Law: Arousal and Learning